Eigenspannungen im Glas können Eigenschaften verbessern, aber auch Defekte verursachen – bisher schwer messbar. Das Fraunhofer-Institut für Mikrostruktur von Werkstoffen und Systemen IMWS in Halle (Saale) entwickelt nun Methoden, um solche Spannungen bis zur Nanoskala zu detektieren und gezielt zu optimieren. Dafür werden definierte Spannungszustände erzeugt und mit modernster Elektronenmikroskopie sowie optischen und mikromechanischen Verfahren analysiert. Das Ziel: robustere, langlebigere und ressourceneffizientere Gläser.
Glas ist aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken – sei es in Smartphones, Tablets oder in Fahrzeugen als Windschutzscheibe. Neben der vielen Vorteile zeichnet sich Glas durch eine ausgeprägte Sprödigkeit aus. Es bricht meist plötzlich, ohne sich vorher zu verformen. Kleine Oberflächenfehler können zu Rissen wachsen, die das Glasbauteil zerstören können. Doch nicht nur Schäden durch Einwirkungen von außen wie ein Sturz oder Steinschlag können Glas beschädigen. Auch mechanische Eigenspannungen innerhalb des Werkstoffs können zu Defekten führen. Solche Eigenspannungen entstehen entweder ungewollt während der Produktion und Nutzung, oder sie werden gezielt eingebracht, um Eigenschaften zu verbessern, etwa Thermoschockbeständigkeit oder die Tragfähigkeit des Glases bei geringerer Dicke.
Die Verteilung solcher Eigenspannungen bis auf die Nanoskala nachweisen und verstehen zu können, würde erhebliche Vorteile bringen. Es könnten beispielsweise Material und Energie eingespart werden, weil Gläser sich ressourceneffizienter und mit verbesserter Lebensdauer fertigen ließen. Gläser könnten erdölbasierte Kunststoffe in bestimmten Anwendungsbereichen ersetzen. Auch eine noch gezieltere Optimierung von Materialeigenschaften wäre möglich. Bisher stehen für eine derart hochaufgelöste Analytik aber keine geeigneten Methoden zur Verfügung. Diese sollen im bis Dezember 2027 laufenden Projekt »SpannGlas« entwickelt werden.
Dazu wird das Fraunhofer-Team zunächst Gläser verschiedener Zusammensetzungen herstellen, in die beispielsweise mittels Politur, Wärmebehandlung, Ionen- oder Laser-Behandlung gezielt definierte Eigenspannungen eingebracht werden. Diese Spannungen werden anschließend optisch und mikromechanisch vermessen. Danach sollen Methoden entwickelt werden, um die erzeugten Eigenspannungen mit elektronenmikroskopischen Methoden auf der Submikrometer-Skala zu detektieren und die Ergebnisse mit denen aus den optischen/mikromechanischen Messungen zu vergleichen. Parallel zu diesem diagnostischen Workflow zur lokalen Spannungsanalyse gilt es, passende Methoden zur Probenpräparation zu finden, durch die zuvor gezielt erzeugte Spannungen nicht weiter verstärkt werden. Auch neuartige Syntheseansätze sowie die Anpassung von Laser- und Ionenaustauschprozessen gehören zu den Projektzielen, um letztlich mechanisch widerstandsfähigere Gläser entwickeln zu können.
»Mit unserer langjährigen Erfahrung in der Mikrostrukturdiagnostik von Gläsern und der mikro- und nanostrukturbasierten Entwicklung von Gläsern und Glaskeramiken sowie der erstklassigen und zuletzt noch einmal erweiterten technischen Ausstattung haben wir sehr gute Voraussetzungen, um diese anspruchsvollen Fragestellungen zu adressieren. Das Entwickeln von Ansätzen zur nanoskalig aufgelösten Bestimmung von Eigenspannungen in Glas ist eine schwierige Aufgabenstellung, der wir uns nichtsdestotrotz gern widmen. Wenn die Projektziele erreicht werden, wären die Ergebnisse sehr hilfreich für zukunftsweisende Anwendungsfelder, wie etwa den Einsatz von Dünnglas in der Mikroelektronikfertigung«, sagt Dr. Katrin Thieme, die das Projekt am Fraunhofer IMWS leitet.
Ein Schlüssel dafür sind neue, leistungsstarke Diagnostik-Technologien, die dem Team in Halle (Saale) zur Verfügung stehen. Dazu gehören etwa 4D-Rastertransmissionselektronenmikroskopie (4D-STEM), hochauflösende Niederverlust-Elektronenenergieverlustspektroskopie (EELS) und Hochverlust-Extended-Energy-Loss-Fine-Structure (EXELFS)-Methoden. Damit lassen sich womöglich oberflächennahe Spannungen durch Subsurface Damage (SSD) erkennen, die bisher für amorphe Materialien wie Gläser diagnostisch nicht fassbar waren. Ebenso lassen sich Spannungszustände aufklären, die durch Hochdrucksynthese, Entmischung, Kristallisation, Ionenaustausch oder durch Laserbeschuss (Laserswelling) induziert werden. Hersteller können also zuverlässig bewerten, wie Schleif-, Politur- und Nachbehandlungsprozesse das Material hinsichtlich kleinster lokaler Eigenspannungen beeinflussen.
»Wir wollen die verbesserten Detektoren in der Elektronenmikroskopie nutzen, um lokale Spannungszustände zunächst qualitativ und dann quantitativ nachzuweisen. Dies wird maßgeblich dazu beitragen, das Verständnis der nanoskaligen Veränderungen im Glas zu vertiefen. Das gewonnene Wissen kann zudem die Entwicklung neuer, widerstandsfähiger Glaszusammensetzungen unterstützen«, sagt Thieme.
(14. Oktober 2025)